Ein alter Stein

1
Ich bin ein alter Stein,
ich liege hier allein,
in der Kommode auf dem Brief.
Ich sah lange kein Licht,
ich weiß es selber nicht,
wie die Zeit verfloss und verlief.
War`s gestern, war`s vor unendlich langer Zeit
im Felsenbett des Baches, als Deine Kinderhand
mich suchte und fand
und über meine Steinhaut glitt
und rief: Den nehm ich mit !

2
Ich kam auf`s Bücherbrett über dem Kinderbett
zwischen den Teddy und den Hund.
Dann flog der Teddy weg,
der Hund stand in der Eck',
Du schmöckertest so mache Stund.
War`s gestern, war`s vor unendlich langer Zeit?
Du wolltest mich eintauschen gegen die Feuerwehr
von Franz, doch der gab sie nicht her.
So blieb ich auf dem Bücherbord
an meinem angestammten Ort.

Die Jahre sie vergingen.
Ich hörte Wecker ringen,
sah dich zur Schule gehen
und sah dich auf den Zehen,
wenn die Kreidemarken im Türrahmen
höher kamen.
Ich bin Dein Stein, Dein alter Stein,
einmal wolltest Du Artist sein.
Jongliertest mich wie eine Keule,
ich schlug Dir eine dicke Beule!

3
Du hörtest laut Musik,
das war mir sehr, sehr lieb,
denn ich genoss die Vibration.
Du brachtest jemand heim,
ihr glaubtet euch allein,
ich kriegte alles mit - wenn schon.
War`s gestern, war`s vor unendlich langer Zeit?
Du packtest Deine Sachen,
das Zimmer war schon leer,
da kamst Du zu mir her.
Über`s Gesicht ein Lächeln glitt,
Du sagtest: Ich nehm ihn mit.



4
Und in der neuen Stadt
verstautest Du mich glatt
neben dem Gemeinschaftstelefon:
zum Fresszettel beschwer`n,
ich musste alles hören,
auch das Geplapper von Marion!
War`s gestern, war`s vor unendlich langer Zeit?
Du weintest in die Muschel
um Deinen Vater und
Tränen wuschen mich rund.
Das Telefon lag lang verwaist,
Du warst nicht da, Marion verreist.

5
Dann warst du sehr verliebt
ich hab das mitgekriegt,
Du wähltest immer eine Nummer.
Und Marion zog aus,
die Liebe ein ins Haus,
ihr teiltet Freude, Lust und Kummer.
War`s gestern, war`s vor unendlich langer Zeit?
Du hast den Brief zerissen,
warfst mich gegen die Tür -
was konnte ich dafür ?
In`s tiefste Schubfach mit den Fetzen,
musste mich darauf zur Ruhe setzen.


Die Jahre sie vergingen.
Ich hörte ein Kind singen.
Ich lauschte neuen Räumen.
Ich sehnte mich in Träumen
nach Luft, nach Licht,
Deinem Angesicht.
Vergaß Dich nicht.
Ich bin Dein Stein, Dein alter Stein.
Das Licht sickert nur spärlich ein,
die Zimmeruhr tickt still und leis,
ich ahne mehr, als dass ich weiß.


6
Es war ein Wintertag,
als ich im Schlummer lag,
traf mich das Licht eine weiße Welle.
Über mir ein Gesicht, eine Hand krumm von Gicht,
hielt Zeilen zitternd gegen`s Helle.
DU stammeltest die Wort eines alten Briefs,
verwaschen und verblichen.
Dann hast du mich erkannt,
streicheltest mich wie Samt.
Und jene Hand, die mich einst fand,
hielt mich umklammert wie ein Pfand.


1) Ein Alter Stein .mp3
2) New Orleans .mp3
3) Freibad .mp3
4) Zeitcafé .mp3
5) Hab keine Angst .mp3
6) Eisenbahn .mp3
7) Sag was wurde nur .mp3
8) Fortschritt .mp3
9) Und dennoch .mp3